Montag, 21. Mai 2007

Fremde

Leseprobe aus dem Taschenbuch "Leute, die ich kenne" von Bettina Licht



Als ich in das kleine Dorf zog, hätte ich niemals erwartet, dass ich die Bekanntheit zu Ungunsten der Fremde aufgab.

Als Zugezogene bleibt man auf dem kleinen Dorf immer Ausgeschlossene, ganz gleich, wie lange man dort schon lebt. Dabei war ich in das kleine Dorf gekommen, um mehr Nähe zu empfinden. Ich erhoffte, die Menschen meiner Nachbarschaft kennen zu lernen, die Anonymität der Stadt hinter mir zu lassen. Ich wollte den Mitmenschen und der Natur nahe sein. Im Gegenzug wünschte ich, dass die Nachbarn und die Tiere und die Pflanzen mir nahe seien. Ich träumte davon, ein Stück Heimat zu finden.

Niemand ist so allein wie die Fremde in dem kleinen Dorf.

Alle Bewohner leben mit ihren Familien schon seit einer unbekannten Zahl von Generationen in den alten Fachwerkhäusern. Auch die, die im Betonwerk, im Büro oder einer Bank in der Stadt arbeiten, sind im wahren Naturell eigentlich Landbauern. So lange schon leben und atmen sie hier, verwurzelt und verflochten mit dem Boden und mit der Tradition, dass sie immer und immer nur wieder Teile dieses Stücks Erde sind und bleiben.

Die Freundlichkeit der Dorfbewohner bedeutet nicht Mitgefühl, Verstehen und Annahme. Vielmehr wandern die Dörfler auf ihren Bahnen wie die Planeten verständnislos an einem vornüber. Sie grüßen, aber sie blicken mich nicht an. Sie feiern ihre Feste gemäß dem religiösen Jahreslauf. Und doch ist die christliche Religion nicht so alt wie das Wesen der Leute vom Dorf. In Wahrheit reicht die Geschichte der jahreszeitlichen Bräuche bis in die nie erforschte Vorzeit zurück. Die Dorfbewohner vererben das geheime Wissen um das Brauchtum mit ihrem Blut.

Selbst wenn sie sich bemühen, Hochdeutsch mit mir zu sprechen, steht es für sie fest, dass ich sie nicht verstehe. Und wirklich, ich begreife nicht, was sie bewegt.

Jeden Morgen fuhr ich mit dem Bus in die Stadt zur Arbeit und jeden Abend zurück. Wer in dem kleinen Dorf lebt, muss ganz unweigerlich die Regelmäßigkeit und die Gewohnheiten lieben. Täglich morgens fand ich die gleiche Gruppe von Pendlern an der holzüberdachten, den alten Häusern stilistisch angepassten Bushaltestelle vor. Die Dorfbewohner standen still nebeneinander im Morgengrauen. Im Winter in kalter Dunkelheit, im Sommer in der kühlen, hellen, klaren Luft.

Manchmal sprachen sie leise miteinander, jedoch immer so, dass ich es nicht verstehen konnte.

Da gab es das sechzehnjährige, dicke Mädchen, welches in der Stadt eine Ausbildung zur Industrienäherin machte, den geistig etwas zu-rückgebliebenen Bauernsohn, der in den Milchwerken einen Platz als Hilfsarbeiter gefunden hatte und das Ehepaar von nebenan mit der Voliere voll ewig krakeelender Zucht-Tauben. Die Frau arbeitete in der Textilfabrik, und der Mann war in einem Autohaus im Büro tätig.

Nicht, dass ich dies von meinen Mitfahrerinnen und Mitfahrern im Bus selbst erfahren hätte! Über solche Details informierte mich grundsätzlich das Klatschweib des Ortes, eine Institution, die es wohl in jedem kleinen Dorf gibt.

Die Sitzverteilung blieb morgens und spätnachmittags immer die selbe. Im wenig genutzten Überlandbus setzte der Bauernsohn sich stets zu einem ähnlich veranlagten Kollegen, der schon im Dorf zuvor eingestiegen war. Die kleine Azubi beanspruchte ganze zwei Sitzplätze für sich und ihre Taschen und Tüten. Das Ehepaar von nebenan saß allzeit traut zusammen auf einer der vorderen Bänke, von wo aus sie immer noch einige Worte mit dem Busfahrer wechseln konnten.

Ich selbst ging gerne nach hinten durch, weil ich mich dort am nächsten beim Ausstieg befand, und weil ich den Überblick über die Busszenerie behielt.

Am Nachmittag bot sich beständig das eben-gleiche Bild. Die Industrienäherin trug jedoch noch mehr Plastiktüten mit sich, die beiden Milchwerkearbeiter schwatzten nicht so viel wie am Morgen, und meine beiden Nachbarn sahen müde aus. Zusammengeknüpft durch das Band der Konvention saßen die beiden Eheleute nebeneinander auf der dunkelrot und grau gemusterten Plüsch-Busbank, unterhielten sich leise über ihre Tageserlebnisse und strahlten Sicherheit, Eintracht und Verbundenheit aus.

Das wiederkehrende Einerlei der Busfahrten jeden Morgen und jeden Abend gab mir das Gefühl, dass sich nichts ändert und alles seinen guten Bestand hat. Auch fühlte ich mich plötzlich zugehörig zu der kleinen Gemeinschaft, einfach dadurch, dass wir immer die gleiche Gruppe der Buspendler waren. Selten fiel es auf, dass einer von uns krank war, Urlaub hatte oder sonst wie fehlte.

*

Eines Tages jedoch ereignete sich etwas ganz Unglaubliches. Im leichten Sommermorgennebel traf ich meine Busleute versammelt an der Haltestelle an. Alles schien wie immer zu sein. Die Lichter des Busses leuchteten aus den feuchten Schwaden heran, die Bustür zischte und schnaufte beim automatischen Öffnen, und die kleine Gesellschaft bestieg das Innere: das Mädel mit den Tüten, der Molkereibursche, die Nachbarn und ich. Doch dann geschah der Bruch mit jeder Tradition, die wir kannten: das Ehepaar, sonst immer zusammen, entzweite sich auf weit auseinander liegende Bus-Sitzplätze. Der Mann setzte sich in die Nähe des Busfahrers, doch die Frau trat nach hinten durch und platzierte sich gar noch hinter die Ausstiegstür.

Während die Gemütslage im morgendlichen Bus meist aufgeräumt und heiter war, erschien sie mir an diesem Tag bedrückt. Die wenigen Fahrgäste blickten hinter der Frau her, als sie durch den Bus ging, verfielen in Nachdenklichkeit und Schweigen. Der sonst unbedarft mit seinem Kollegen plappernde Bauernsohn zeigte sich auffällig still, und die Näherin raschelte nicht so unbekümmert mit ihren Tüten wie gewohnt.

Der Stimmungsumschwung erfasste mich genau wie jeden im Bus. Ich schaute zu der allein sitzenden Frau in meiner Nähe, dann wanderte mein Blick aus dem Busfenster hinaus in die bekannte Landschaft weit über die Hügel mit den Wallfahrtskirchlein, über die Wiesen, die Felder. Und dann, nach zwanzig Minuten Fahrtzeit, hin zu den Tankstellen, den Fabrikanlagen, den Verkehrsampeln, den Häuserreihen der Vorstadt. Niemand, hatte ich das Gefühl, wollte die in sich gekehrte Frau zu neugierig beobachten, zu fragend mustern. Alle Busgäste schauten mehr aus den Fenstern als üblich und sprachen weniger miteinander als sonst.

Keiner hätte je geglaubt, dass diese Situation nun für die nächsten Jahre würde bestehen bleiben.

Unsere Busgemeinschaft hatte eine neue Gesetzmäßigkeit bekommen. Die Personen waren die gleichen, die Spielregeln hatten sich verändert.

Seit diesem Sommermorgen sprachen die beiden Eheleute nie mehr ein einziges Wort zusammen. Die Frau, eine dunkelhaarige ernste Person in den mittleren Jahren, wurde noch unbeweglicher, als sie mir von je her vorgekommen war. Der Mann, schon leicht ergraut, nachdenklich mit einem Hang zur Schwermut, erschien belasteter und bedrückter als zuvor. Auch änderte sich mit der Zeit das Klima im Bus. Es sollte nie mehr so sein, wie wir es kannten und mochten. Es war ab diesem Tag wie mit einer Kaffeetasse, die einen Sprung hatte, zu gering, um sie wegzuwerfen, zu grob, um den Makel zu übersehen.

Ein paar Tage nach dem Ereignis traf ich die alte Klatschtante des kleinen Dorfes. Ich fragte nach den beiden Nachbarn, und ob sie etwas wüsste. „De hon sich gestriede“, war ihr Kommentar. Ich verstand nicht, warum die Alte diese Feststellung so betont triumphierend vorbrachte, so als wüsste sie etwas, was anderen noch nicht bekannt war. Dass die beiden sich zerstritten hatten, lag ja offenkundig. Ich interessierte mich eigentlich dafür, was genau die beiden so auseinander gebracht hatte.

Das gramvolle Schweigen hielt an. Als ich ein paar Wochen später abermals einen Vorstoß bei der geschwätzigen Dorffrau machte, bekam ich zu hören: „Des git nix mehr mit denne beide. De hon schon das Haus ufgedelt. Und des kurz vor der Silberhochzit.“

Auf kleinen Dörfern gibt es kein Privatleben. Jeder weiß dort, was der andere tut. Dieser Umstand bedeutet aber nicht gleichzeitig eine größere Nähe zwischen den Bewohnern. Es bedeutet einzig und allein, dass die Menschen etwas darüber wissen, was ihre Nachbarn tun. Über die inneren Beweggründe, die einen Menschen zu seiner Tat treiben, werden oft noch nicht einmal Vermutungen angestellt. Die allgemeine Frage lautet: Tut der Mitbewohner des Dorfes etwas, was sich konform oder im Gegensatz zum Normalen befindet?

Ich versuchte, etwas über die Nachbarn herauszufinden, indem ich sie heimlich beobachtete. Morgens traten sie zusammen wie immer aus ihrem Haus mit gepflegtem Rasenvorgärtchen, welcher von festem Drahtzaun umgeben war. Neben dem Haus befand sich die große Vogel-voliere mit den aufgeplusterten grauen und weißen Tauben, die den ganzen Tag ihre feder-reichen Schwänze zu ziervollen Rädern auf- und zuschlugen, sich gegenseitig hackten und bissen, auf dem Boden herum scharrten und pickten und ansonsten, je nach Saison, gurrten, buhten, maunzten oder kreischten.

Die beiden Eheleute gingen nebeneinander, jedoch nicht zusammen, zur Bushaltestelle. Dort standen sie vielleicht zwei Meter voneinander entfernt und schwiegen. Ihrer beider Körperhaltung drückte eindeutig Abkehr und unauffällige, unausgetragene Feindschaft aus. Im Bus saßen sie weit voneinander entfernt und schauten, jeder aus seinem Busfenster, in die Ferne. Früher hatten die beiden auch hin und wieder ein paar Worte mit dem Plastiktüten-Mädchen und dem Milchwerke-Arbeiter gewechselt. Seither, jedoch, tauschten sie kaum noch einen kurzen Gruß mit den anderen oder mit mir.

Abends erschienen sie ebenfalls wie gewohnt zur gleichen Zeit am Busbahnhof. Ganz still und starr voneinander abgewendet warteten sie, bis die Bustür geöffnet wurde.

Nach und nach verhärteten sich ihre Mienen. Die Frau, deren Gesicht und Haltung früher noch eine stolze Schönheit eignete, wurde verhärmt und bitter. Der Mann, schon immer ein gewissermaßen melancholischer Typ, schaute aus seinen ehemals traurigen Augen nun feindselig in die Welt, so als müsse er schon durch seinen Blick die zu erwartenden bösen Angriffe seiner Umwelt abwehren.

Das Leiden ist auf dem kleinen Dorf ein anderes, als in der Stadt. Während sich in der Stadt kein Mensch um das Wohl und Wehe seiner Nachbarn kümmert, ist man auf dem Dorf der Beurteilung durch den Nächsten unbehütet preisgegeben. Jeder Schritt, den man tut, wird bewertet und begutachtet. Nicht etwa, dass die Dorfleute sich mehr um ihre Mitmenschen sorgen würden. Es zählt einzig die Überprüfung des Verhaltens an dem, was die Tradition vorschreibt.

So lebten denn die Partner des entzweiten Paares weiterhin beide in dem kleinen Haus mit dem Vorgärtchen und den Tauben. Den mittlerweile gebeugten Mann sah man am Wochenende bei der Betreuung seiner Ziervögel, die Frau putzte die Fenster, hackte im Garten oder goss die Geranienkästen.

Die einzige Tochter der beiden hatte sich vor fünf Jahren in einen weit entfernten Ort verheiratet. Früher, hatte ich beobachtet, kam sie mit ihrem Mann wochenends die Eltern besuchen. Im Sommer saßen sie alle zusammen hinter dem Haus auf einer kleinen Terrasse neben einem winzigen Gartenteich, eigentlich nur ein gestanztes Kunststoffbecken mit ein paar rot-glänzenden oder hellgefleckten Goldfischen und einigen struppigen Binsengewächsen. Dort grillten sie Würstchen und Schwenksteaks, plauderten, die Männer über den neuen Wagen des Schwiegersohns, die Frauen über den Musikverein oder einfach über Kochrezepte und Handarbeiten. Seit dem Bruch bei den Eltern hatte ich die Tochter nie mehr gesehen. Ich hatte gehört, dass die Frau jeden Kontakt mit ihr ablehnte, und dass der Mann manchmal heimlich zu ihr in das weit entfernte Dorf fuhr.

Von der Gemeinschaft sonderten sich die beiden mehr und mehr ab.

Nach einiger Zeit lässt selbst im kleinen Dorf die Beschäftigung mit etwas Ungewöhnlichem nach. Das nebeneinander Herleben meiner Nachbarn war zum Regelfall geworden. Die Klatschbase reagierte auf mein Nachfragen Monate später eher unwillig, wollte mir etwas anderes berichten, lenkte geschickt auf neue Gesprächsthemen um. Ihre einzige knappe Feststellung zu diesem Fall war: „Do es Hopfen un Malz verlorn“.

Meine Gedanken kreisten jedoch öfters um die Lebensform, die meine Nachbarn gewählt hatten. Wie konnte ein Ehepaar, das offensichtlich schon mehr als zwanzig Jahre innig miteinander verbunden und harmonisch zusammengegangen war, sich so plötzlich gegeneinander zerstreiten, dass die Partner, im selben Haus wohnend, nie mehr miteinander sprachen? Welcher Grund, welcher Vorfall konnte so herb und furchtbar sein, dass er zwei ehemals Verbundene, derart trennte? Es musste, schien mir, etwas mit der Tochter zu tun haben, da die Mutter sie nicht mehr zu sehen wünschte.

*

Schon lange hatte die kleine Azubi ihre Lehre in der Textilfabrik beendet und arbeitete nun als Näherin für einen geringen Lohn in demselben Betrieb. Sie war mit den Jahren keineswegs schlanker geworden. Auf dem letzten Schützenfest hatte sie sich einen Verehrer geangelt, der ihr an Leibesfülle kaum nachstand.

Der Milchwerke-Hilfsarbeiter führte immer noch stumpfsinnige Tätigkeiten in der Molkerei aus, ebenso wie sein gleichgesinnter Kumpel aus dem Nachbardorf. Ich selbst fuhr wie eh und je mit der gleichen kleinen Clique morgens und abends zusammen im Überlandbus: dem Mädel, dem Bauernsohn und den sprachlosen Nachbarn.

Doch dann geschah auf einmal ein Wunder. Ich erinnere mich deutlich an diesen schicksalhaften spätherbstlichen Morgen. Es war so still und dunkel, und es roch nach moderndem Kastanienlaub, ein eigentümlicher Geruch, den die zwei Bäume am Dorfanger nahe dem Bushäuschen herüber sandten.

Meine kleine Busgruppe hatte sich wie jeden Morgen vor der Holzhütte eingefunden.

Von feuchter Finsternis umgeben warteten wir in unseren Wintermänteln, dass der warmgeheizte Bus bald käme. Die Näherin trug ausladend viele Taschen und Tüten mit sich, der Milchwerke-Arbeiter schien wie immer munter und gutgelaunt, das Nachbarehepaar stand unauffällig beiseite nebeneinander. Der hellerleuchtete, freundliche, breite Bus rollte heran, auf Knopfdruck des alt-bekannten Fahrers zischten die Türen auf, und wir stiegen zu.

Die Nachbarn setzten sich schweigend und ohne zu zögern zusammen genau auf den Platz, den sie früher stets eingenommen hatten. Der Mann wechselte leise einige Worte mit dem Fahrer, die Frau blickte so frei und stolz wie einst durch die leicht beschlagene Frontscheibe des Busses hinaus in die trübe gedämpfte Dunkelheit.

Zu keinem Zeitpunkt der Fahrt schauten die beiden sich an oder sprachen miteinander, und doch waren für jeden der Mitfahrer die geheimnisvollen Kräfte der erneuten Verbundenheit der Eheleute so greifbar und real wie ein Findlingsstein auf dem Felde.

Und nie mehr erlebten wir, dass es noch einmal anders wurde, als es nun war. Und nie hat ein Mensch herausgefunden, was es mit dem Zerwürfnis und der plötzlichen Versöhnung der beiden auf sich hatte.

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