Dienstag, 16. März 2010

Krimi von Lilo Beil: Die Kinder im Brunnen


















"Es war einmal..." Der Schulaufsatz Lisa Bredows, ein Märchen, auf dem Tisch ihrer Lehrerin Charlotte Rapp ist der Schlüssel zu einer Reihe von Gewalttaten, die mit dem Verschwinden Lisas beginnt. Diese Tragweite ist Charlotte anfangs nicht bewusst. Entsetzt und tief verstört vom Verschwinden ihres Schützlings, von der Erschlagung eines Obdachlosen in ihrer Nähe, von zunehmender Aggressivität und Brutalität wird sie unfreiwillig zur Ermittlerin. Ein Kollege muss sterben, bis die Pädagogin in Zusammenarbeit mit Hauptkommissar Guldner das teuflische Geheimnis hinter Lisas Märchen entschlüsseln kann. Die spannende und engagierte Geschichte um Mobbing, soziale Kälte und steigende Gewaltbereitschaft spielt an Schauplätzen im Weschnitztal, Weinheim an der Bergstraße, Heidelberg, Speyer und Mecklenburg-Vorpommern.
Lilo Beil unterrichtete 35 Jahre an einem Gymnasium im Odenwald. Eigene Erfahrungen mit Mobbing und Gewalt unter Schülern verarbeitet sie in ihrem vierten Kriminalroman. Die Autorin plädiert leidenschaftlich für eine Kultur des Hinsehens, für Zivilcourage und bürgerschaftliches Engagement - verschweigt aber auch nicht die Ängste, denen man dabei ausgesetzt sein kann. Für das hochaktuelle Thema unterbricht die Autorin ihre Reihe mit dem beliebten Kommissar Gontard für ein Jahr.
Bestellungen bei: http://www.conte-verlag.de/die-kinder-im-brunnen-bestellen

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Leseprobe:

Der Tod an der Brücke

Der zweite Stein, der tödliche, traf ihn mit voller Wucht an
der Schlafe. So ist es also, das Sterben, dachte er im Fallen, wie
seltsam, ich habe es mir immer ganz anders vorgestellt. Und
es gibt ihn tatsachlich, den Lebensfilm, der rückwärts ablauft.
Der erste Stein hatte ihm den Atem genommen und war mit
dumpfem Aufprall mitten auf seiner Brust gelandet. Auf der
Brücke hatte er die freundlich winkende Gestalt gesehen.
Ein sehr junges Gesicht, fast engelhaft, ungewohnt für ihn,
nach all den feindseligen jungen Gesichtern, den hübschen
Madchen, Kindern fast, mit klimpernden Kreolenohrringen.
Und die lässig schlendernden schlaksigen Jungs mit ihren
Kappen oder den gestylten Haaren, die ihn alle verächtlich
musterten, wenn er da saß in der Fußgängerzone, beschämt,
vor sich das Schild: Ich habe Hunger. Beschämt und bemüht,
es nicht zu zeigen.
Und die hämischen Kommentare der Älteren: Hier bei uns
im Land muss keiner hungern, der arbeiten will. Penner! Ab
und zu ein fragendes, liebes kleines Gesicht, Mitleid, das
noch nicht von Harte verdorben ist. Warum sitzt der Mann
da? Das ist nur ein Penner. Und das kleine Kind wird weitergezerrt.
Die dummen Fragen, die stören nur beim Shoppen.
Zwischendrin ein bisschen Glück, der Hund Moritz leistet
Gesellschaft in den zugigen Einkaufszonen in Norddeutschland,
Süddeutschland, die alle gleich aussehen. Mit den Tieren
haben die Menschen ein klein wenig mehr Mitleid als
mit ihm, dem Penner. Ab und zu gibt es freundliche Blicke
für den Hund, der Geldbeutel wird bereitwillig geöffnet, ein
Streicheln. Für ihn, den Menschen, bleibt nur Kälte. Sogar
die wenigen Leute, die etwas geben, wenden sich ab, laufen
hastig weiter, als schämten sie sich ihrer freundlichen Geste.
Dann Moritz’ plötzlicher Tod, die Menschen gehen wieder
achtlos an ihm vorüber, der kein Tier ist, das man bemitleiden
könnte.
Und weiter lauft der Lebensfilm rückwärts ab. Der Verlust
der Wohnung, der Anfang vom Ende. Davor die Jobsuche,
doch der Prozess, die Verleumdung durch den Kollegen, der
ihm schon lange alles neidet, den Erfolg und die Frau, zerstört
alle Bemuhungen. Es hilft nichts, dass er freigesprochen
wurde vom Verdacht, Firmengelder unterschlagen zu haben.
Es bleibt immer etwas hangen. Semper aliquid haeret. Diesen
Spruch kannte er noch von seinen Jahren im Progymnasium.
Was hat ihm seine ganze Bildung genutzt?
Die Ehe mit Karin. Karin ganz in Weis und blond und wunderschön.
Sie waren ein Traumpaar gewesen. Davor der Erfolg
im Beruf, die kleinen Aufstiege in der Firma, der sehr
gute Realschulabschluss. Die Freunde, der Sport, die Siege
im Handball. Pokale, Trophäen, Madchen zuhauf, an jedem
Finger eine. Und die Eltern waren so stolz auf den Sohn, das
einzige Kind. Die Feste im Garten und die Kirschernte, die
Weinernte, die glücklichen Tage in den Weinbergen der Eltern,
im alten Haus mit dem riesigen Keller, der Boden aus
gestampftem Lehm. Das rebenumwucherte Haus in der Südpfalz,
die vielen Räume, in denen die Freunde und er sich
versteckten, der Speicher, die Scheuer, die verbotenen Spiele
im Heu mit den Nachbarskindern. Spinnweben, Mäuse und
der Geruch von Most und Moder und fauligen Äpfeln, die
man vergessen hatte. Schiefer Boden, lange Steigen aus Holz,
Walnüsse darauf, braune hohe Töpfe, der säuerliche Geruch
von Kraut.
Das Kleinkind auf der Schaukel neben der Wäscheleine mit
den mit Omo gewaschenen Hemden und Hosen und Betttüchern.
Das Kind in der Wiege. Er. Die Hebamme druckt dem
stolzen Vater, dessen Haar von Brillantinecreme glänzt, den
kleinen Sohn in die Arme. Die Geburt. Hinaus will das Kind,
ins Leben, es hat lange genug gewartet. Es ist das Jahr 1966.
Der Film ist abgelaufen.
Wie seltsam, dachte Matthias Pfaffmann. Nun sterbe ich im
Frühjahr, dabei hatte es dieses neue Leben gegeben. Ich war
doch gerade auf dem Weg zu Volker. Er wird sich wundern,
warum ich nicht komme, mich für unzuverlässig halten, für
einen Luftikus, wie all die anderen auch. Penner. Penner. Ich
bin doch erst dreiundvierzig Jahre alt, jung genug für einen
Neuanfang, und Volker war immer ein treuer Kerl, er hatte
mir geholfen.
Der letzte Blick des sterbenden Mannes ging nach oben, zur
Brücke, zu dem hämisch grinsenden Gesicht. Ein teuflischer
Engel, dachte er. Sein Blick glitt zu dem verfallenden, einst
hochherrschaftlichen Gebäude hinüber, aus dem die Farne
wucherten, hinüber zu der Villa aus rotem Stein, und hinunter
zum Flusschen, zum schrägen Wehr.
Warum, dachte er?
Dann nichts mehr als Nacht.

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Die Autorin Lilo Beil

Die Autorin stammt aus dem südpfälzischen Winden. Die Pfarrerstochter studierte in Heidelberg Romanistik und Anglistik. Über 35 Jahre unterrichtete Sie an einem Gymnasium. Die verheiratete Mutter dreier Töchter lebt im Odenwald.
Seit frühester Jugend interessierte sich Lilo Beil für Literatur und Kunst. Neben ihrem schulischen Engagement hat sie sich immer mit Malerei und Schreiben beschäftigt. Ihr liegt, sagt sie, das Satirische, schon mal mit einem Schuss ins Bösartige, aber es finden sich in ihren Geschichten genauso romantische Elemente, Spannungsmomente und die kritische Auseinandersetzung mit Geschichte und Gesellschaft. Gelobt wird außerdem immer wieder die klare, sorgfältige Sprache. 1997 erschien "Maikäfersommer und andere Geschichten aus Pfalz und Kurpfalz", das in der Edition Tintenfass mittlerweile in zweiter Auflage vorliegt. Weitere Erfolge wie die Aufnahme ihrer Kurzgeschichte "Der Nussknacker" in eine Weihnachtsgeschichtenanthologie des Rowohlt-Verlages zwischen so berühmten Beiträgerinnen wie Kaschnitz und Lasker-Schüler ermutigten Lilo Beil. 1999 veröffentlichte sie unter dem Titel "Sonnenblumenreise" Geschichten für Reisende und Nichtreisende; 2002 folgte "Heute kein Spaziergang", Kriminalgeschichten von Liebe Kunst und Tod. 2005 erschien ihre Geschichtensammlug "Schattenzeit". Zahlreiche Lesungen machten Sie im Raum zwischen Pfalz und Odenwald zu einer beachteten Autorin.
Ihre Schriftstellerkollegin (und Deutschlands erfolgreichste Krimi-Autorin) Ingrid Noll sagt über Lilo Beil: "Die kann was."